Der Angleichungsprozess zwischen Ost und West, der während der Corona-Zeit fast zu einer Gleichstellung führte, scheint 2024 beendet. Der Unterschied in der Lebenszufriedenheit liegt wieder bei 0,34 Punkten, ähnlich wie vor zehn Jahren. Die Corona-Pandemie hat die Unterschiede nur vorübergehend überdeckt. Viele Ostdeutsche fühlen sich weiterhin als "Bürger zweiter Klasse" und sehen sich in der Bundesrepublik unterrepräsentiert. Auch wirtschaftlich bleibt Ostdeutschland hinter dem Westen zurück.
Ost- und Westdeutschland driften im Lebensglück wieder auseinander. Das war bis vor Kurzem noch anders: Seit 2004 wurde der Abstand kontinuierlich geringer, bis er im ersten Corona-Jahr 2020 nur noch 0,05 Punkte betrug - auf der Skala zwischen null und zehn (Abbildung 1). Statistisch gesprochen konnte 2020 nicht mehr mit Sicherheit gesagt werden, ob die Ostdeutschen im Durchschnitt tatsächlich unzufriedener waren als die Westdeutschen – so klein war der Unterschied. Bereits mit den Lockerungen 2021 und der schrittweisen Aufhebung der Maßnahmen stieg die Glücksdifferenz aber wieder leicht auf 0,09 (2021) beziehungsweise 0,24 Punkte (2022). Letztes Jahr (2023) sank sie dann geringfügig auf 0,20 Punkte. 2024 liegt die Differenz allerdings bei 0,34 Punkten: Der Trend hin zu erneut größeren Unterschieden zwischen Ost und West setzt sich also im vierten Jahr fort. Aktuell steht das Glücksniveau der Westdeutschen bei 7,13 Punkten und das der Ostdeutschen bei 6,79 Punkten.
Abbildung 1: Abstand zwischen Ost und West wächst 2024 wieder
Corona ist weg – die Unterschiede sind wieder da
Das Niveau des Glücksunterschieds von 0,34 Punkten liegt dieses Jahr damit ähnlich hoch wie 2014 (0,36 Punkte). Damit erreicht diese Differenz zwar noch lange nicht die Werte der 1990er- oder 2000er-Jahre, als zwischen der Lebenszufriedenheit der West- und Ostdeutschen noch 0,5 bis 1,1 Punkte lagen. Trotzdem deutet das sich wiederholende Auseinanderdriften des Lebensglücks darauf hin, dass der Konvergenzprozess von Ost und West noch lange nicht abgeschlossen ist.
Die Corona-Pandemie hat die Angleichung der Glücksverhältnisse beider Landesteile nur kurzfristig ermöglicht, weil Corona den Westen schlicht stärker getroffen hatte als den Osten. Die Konvergenz im Lebensglück der Corona-Zeit hatte somit nichts mit einer Verbesserung in Ostdeutschland, sondern nur mit einer stärkeren Verschlechterung in Westdeutschland zu tun. Schon im Glücksatlas 2022 vermuteten wir, dass mit Beendigung der Corona-Maßnahmen die Lebenszufriedenheit im Westen wieder stärker zunimmt als im Osten: Mit dem größeren Wohlstand im Westen konnte wieder mehr eingekauft und gereist werden. Außerdem war der Anteil der von Maßnahmen besonders betroffenen Gruppen – jüngere Altersgruppen, Städter und Familien – im Westen höher. Würde Corona wegfallen, würde die Lebenszufriedenheit im westdeutschen Raum schnell wieder das Niveau vor der Pandemie erreichen.
Die offensichtlichste Ursache für die Differenz in der Lebenszufriedenheit entstammt den soziodemografischen und -ökonomischen Unterschieden: Die Einkommen und Vermögen der Privatpersonen sind in Ostdeutschland nach wie vor geringer als in Westdeutschland. Das lässt sich schon allein am Beispiel der geringeren Eigentumsquoten ablesen: Nur ein Drittel der Immobilien befinden sich im Eigentum von Ostdeutschen. Der Rest des Immobilienbestands gehört Westdeutschen, die die ostdeutschen Immobilien als Kapitalanlagen nutzen, oder Ausländern beziehungsweise Wohnungsunternehmen (vor allem in Berlin). In Westdeutschland befindet sich hingegen jede zweite Immobilie in der Hand eines westdeutschen Eigentümers. Auch das Geld- und Finanzvermögen der Westdeutschen ist deutlich höher. Aus der Zufriedenheitsforschung ist klar: Im Querschnitt sind wohlhabendere Personen grundsätzlich glücklicher als weniger Wohlhabende – so sind eben auch die Westdeutschen wohlstandsbedingt zufriedener als die Ostdeutschen. Weitere »umstandsbedingte Ursachen« für die geringere Lebenszufriedenheit der Ostdeutschen sind eine stärkere Überalterung, eine in bestimmten Bereichen (z. B. Gesundheitsversorgung, Lebensmittelläden, ÖPNV) schlechtere Infrastruktur und ländliche Gebiete, die bis heute unter der Abwanderung junger Menschen der letzten drei Jahrzehnte leiden.
Ostdeutsche sehen Ost-West Beziehung als konfliktreicher an und fühlen sich eher als »Bürger zweiter Klasse«
Neben den oben genannten sozialökonomischen Faktoren (Überalterung, niedrigere Einkommen usw.) gibt es aber auch einen in der Debatte gern übersehenen relevanten Faktor, der die Lebenszufriedenheit vieler Ostdeutscher schmälert: Diskriminierung. Laut den Ergebnissen der von uns in Auftrag gegebenen Befragung aus dem Juni 2023 fühlen sich Menschen, die sich als Ostdeutsche identifizieren, deutlich unterrepräsentiert in Politik, Staat, Wissenschaft, Medien und Unternehmensführung im Vergleich zu Westdeutschen. Für die Bundes- und Landespolitik zeigen sich 39 Prozent mit der Repräsentation enttäuscht, mit der medialen Berichterstattung sind es knapp 41 Prozent der Ostdeutschen. Diese Zahlen liegen etwa ein Viertel bis ein Drittel höher als bei den Westdeutschen. Eine kürzlich veröffentlichte Studie der Bundesregierung hat die Richtigkeit dieser Wahrnehmung, dass Ostdeutsche in Führungsebenen von Unternehmen, Behörden, Medien usw. unterrepräsentiert sind, bestätigt. 37 Prozent der Ostdeutschen sehen sich als »Bürger zweiter Klasse«.
Abbildung 2: Etwas mehr Ost- als Westdeutsche nehmen Ost-West-Verhältnis als konfliktreicher wahr
Abbildung 2 zeigt überdies, dass die Ostdeutschen in unserer Sonderumfrage aus dem Juni 2024 die Ost-West-Beziehungen als konfliktreicher wahrnehmen. Wie schon bei dem Anteil der »Bürger zweiter Klasse« sind es wieder 37 Prozent der Ostdeutschen, die das Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschland als konfliktreich wahrnehmen. Westdeutsche sehen »nur« zu 30 Prozent Konflikte. Interessant ist, dass die Gruppen, die Konflikte sehen, sich in den beiden Landesteilen stark unterscheiden: Im Osten sind es zuvorderst die 55- bis 65-Jährigen mit geringen Einkommen und eher mittlerem Bildungsgrad. Im Westen hingegen sind es Personen im mittleren und jungen Alter mit hohem Einkommen und hoher Bildung, die die Beziehung zwischen Ost und West als konfliktreich ansehen. Während es in Ostdeutschland also eher direkt Betroffene der Wendejahre sind, sind es im Westen eher jüngere, gut verdienende Menschen, die die Wendejahre kaum bewusst miterlebt haben.
Die Bereichszufriedenheiten fallen im Osten ab – nur die Einkommenszufriedenheit steigt von einem geringen Niveau aus leicht an
Unsere Auswertung der Bereichszufriedenheiten zeigt 2024 besonders deutliche Unterschiede in den Bereichen finanzielle und gesundheitliche Situation (siehe Abbildungen 3 und 4). Während die Ostdeutschen im Vergleich zum Vorjahr eine leicht gestiegene Zufriedenheit mit ihrem Einkommen verzeichnen (6,40 gegenüber 6,36 Punkten), hat sich der Abstand zur Einkommenszufriedenheit der Westdeutschen auf 0,52 Punkte vergrößert. In Westdeutschland haben die sinkende Inflation und steigende Löhne die Zufriedenheit mit dem Einkommen um 0,21 Punkte erhöht. Dieser positive Effekt ist in Ostdeutschland schwächer ausgeprägt, da dort der Anteil der Ausgaben für Lebensmittel höher ist, und gerade die Lebensmittelpreise mit 20 bis 30 Prozent stärker gestiegen sind als die Löhne. Zudem ist der Anteil der Rentenbezieher im Osten größer, und Renten passen sich erst mit einem Jahr Verzögerung an die Lohnentwicklung der Erwerbstätigen an.
Abbildung 3: Ostdeutsche besonders mit ihrem Einkommen unzufrieden
Auch die Zufriedenheit in den Bereichen Familie und Gesundheit nimmt im Osten ab, während sie im Westen jeweils steigt. Traditionell gab es bei der Familienzufriedenheit kaum Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland. Im Westen, wo der Anteil an alleinlebenden Städtern höher ist, wurde das Familienleben oft schlechter bewertet. Dieser Vorteil scheint sich jedoch durch zwei Entwicklungen zu verringern: Zum einen altert die Bevölkerung in Ostdeutschland schneller, was zu einem höheren Anteil an alleinlebenden Witwen und Witwern führt. Zum anderen nehmen Einsamkeit und soziale Isolation in vielen entvölkerten Dörfern und Kleinstädten im Osten zu. Menschen, die sich einsam fühlen, bewerten ihr Familien- und Sozialleben tendenziell negativer als jene, die sich gut eingebunden fühlen.