»Es ist das bekannteste Konzept in der Geschichte der Glücksforschung: 1974 veröffentlichte der amerikanische Ökonom Richard Easterlin sein »Easterlin-Paradoxon«: Amerikas Gesellschaft sei trotz des konstanten wirtschaftlichen Aufschwungs seit 1945 nicht glücklicher geworden. Noch heute ist das Paradoxon von großer Aktualität: Ist Wachstum sinnlos? Warum arbeiten wir so hart, wenn sich das kaum in unserer Glücksbilanz niederschlägt?
»Golden Age of Capitalism«, so werden die Jahre von 1945 bis 1973 in den USA oft genannt. »Golden« war dieses Zeitalter besonders wegen des wirtschaftlichen Aufschwungs: Das amerikanische Bruttoinlandsprodukt (BIP) hat sich in diesem Zeitraum mehr als verdoppelt. Das Credo lautete damals: Je mehr Wachstum, desto mehr Wohlstand und desto mehr Glück. Umso größer war der Schock, als Easterlin diesen Zusammenhang in Zweifel zog. Er zeigte, dass die Lebenszufriedenheit in diesem Zeitraum kaum zugenommen hatte.
Das Easterlin-Paradoxon
Zwei Zusammenhänge sind in der Glücksforschung gut belegt: Wohlhabende Menschen sind durchschnittlich zufriedener mit ihrem Leben als arme; und reiche Länder haben im Schnitt ein höheres Glücksniveau als weniger wohlhabende. Daher scheint es nur logisch, dass in einem Land, das über die Zeit reicher wird, parallel dazu auch die Gesellschaft glücklicher wird. Dass diese Annahme in die Irre führen kann, zeigte Easterlin 1974: Das US-amerikanische BIP war pro Kopf innerhalb von dreißig Jahren stark gestiegen, die Lebenszufriedenheit aber kaum. Mit anderen Worten: Das Einkommen einer Person kann zwar steigen, wenn die Wirtschaft ihres Landes wächst, aber ihre allgemeine Lebenszufriedenheit muss sich nicht unbedingt verbessern.
Das Paradoxe an Easterlins Befunden? Zu einem konkreten Zeitpunkt hängt Glück stets mit dem Einkommen zusammen, aber über die Zeit kann dieser positive Zusammenhang nicht festgestellt werden: Das Glück stagniert, obwohl die Einkommen wachsen. Obwohl die USA also nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Rolle als Wirtschaftsgigant weiter ausbauten, wurden sie nicht zur Glücks-Supermacht.
Auch in einer aktuelleren Studie mit Daten aus vielen Ländern belegt er das Paradoxon mit mehreren Beispielen: Indien und China etwa haben von 1990 bis 2015 ein rasantes Wirtschaftswachstum erlebt und den Status eines »Entwicklungslandes« hinter sich gelassen. Dennoch stieg die Lebenszufriedenheit nur wenig. Easterlin geht davon aus, dass die Glücksunterschiede zwischen reichen und armen Ländern kleiner sind als die innerhalb eines Landes. Die Mittelschicht in Indien ist vermutlich glücklicher als die Unterschicht in den USA, auch wenn sie im Durchschnitt ärmer ist.
Bald wird Easterlins Paradoxon seinen 50. Geburtstag feiern. Passt es auch auf Deutschland? Auch hierzulande hängt die Lebenszufriedenheit deutlich weniger mit dem BIP pro Kopf zusammen, als eigentlich zu erwarten wäre. Abbildung 1 zeigt: Deutschlands BIP stieg zwischen 1999 und 2019 um zirka 60 Prozent. Eine Glücksexplosion gab es in dem Zeitraum dennoch nicht. Die Lebenszufriedenheit stieg zwar, aber bloß um 7,4 Prozent: von 6,65 auf 7,14 Punkte.
Abbildung 1: Bruttoinlandsprodukt pro Kopf und Lebenszufriedenheit hängen auch in Deutschland nicht zusammen
Ständiger Vergleich mit Referenzgruppe
Easterlin selbst versuchte sein Paradoxon zu erklären. Sein Hauptargument: Der soziale Vergleich verhindert, dass alle zugleich wohlhabender und glücklicher werden können. Denn der soziale Vergleich ist ein Nullsummenspiel: Wenn alle eine größere Wohnung haben, leben zwar alle komfortabler, aber am gegenseitigen Rangverhältnis hat sich nichts verändert. An den höheren Konsum gewöhnen wir uns weitgehend, für die kollektive Lebenszufriedenheit ist aber die soziale Position wichtiger. In den westlichen Mittelstandsgesellschaften steigen zwar manche sozial ab, aber andere steigen auf. Das bewirkt, dass sich die allgemeine Lebenszufriedenheit insgesamt kaum verändert, obwohl die Einkommen zunehmen. Ein wichtiger Punkt beim Vergleich der Länder sind Schwellenwerte. Sobald ein bestimmtes durchschnittliches Einkommensniveau in einem Land erreicht ist, nimmt die Zufriedenheit kaum noch zu. Das ist bei der individuellen Zufriedenheit mit dem Einkommen ganz ähnlich, wo der Glückszuwachs eines zusätzlichen Euros im unteren Einkommensbereich groß ist, jeder zusätzliche Euro bei Gutverdienern aber keine Euphorie mehr auslöst. Wirtschaftswachstum und Einkommenszuwächse in armen Ländern bewirken daher eine sichtbare Verbesserung des allgemeinen Glücksniveaus, ab einer bestimmten Schwelle (sie liegt bei 16.000 Dollar pro Kopf) kommt die Lebenszufriedenheit nur noch sehr langsam vorwärts.
Erwartungen an zukünftigen Wohlstand
Eine weitere Erklärung für das Paradox: Mit steigendem Wohlstand gehen auch höhere Erwartungen einher. Wir gewöhnen uns schnell an höhere Löhne oder auch an Vollbeschäftigung. Werden dann die steigenden Erwartungen nicht erfüllt, fällt also zum Beispiel die Gehaltserhöhung geringer aus als erwartet, senkt das die Lebenszufriedenheit, obwohl doch das Gehalt immerhin gewachsen ist. Das nach oben verschobene Anpassungsniveaus (Stichwort: Adaptation Level Theory) bewirkt, dass wir den neuen Wohlstand als normal und kaum mehr glücksfördernd erleben.
Missverständnisse über das Easterlin-Paradoxon
Die These von Easterlin schlug große Wellen. Das hing aber nicht nur mit dem Paradoxon selbst zusammen, sondern auch mit einigen Missverständnissen. Drei davon sind besonders weit verbreitet.
(1) Kurzzeitiger und langfristiger Effekt vom Einkommen auf die Lebenszufriedenheit
In einer Wirtschaftskrise sinkt zumeist nicht nur das eigene Einkommen, sondern auch das des Umfeldes. Wenn also das soziale Referenzniveau niedriger ist, warum sollte dann die Lebenszufriedenheit sinken? Tatsächlich sind Menschen in Krisenzeiten im Schnitt unglücklicher. Das scheint auf den ersten Blick dem Easterlin-Paradoxon und der Idee des sozialen Vergleichs zu widersprechen.
Easterlin erklärt, dass man sich nicht nur mit anderen vergleicht, sondern in Krisen dazu neigt, den alten Lebensstandard als Maßstab heranzuziehen. Für eine kurze Phase korreliert das Einkommen eines Landes mit der Lebenszufriedenheit. Das Paradoxon ist aber langfristig ausgelegt, daher widerlegt diese Beobachtung Easterlins These nicht.
(2) Was bedeutet das Paradoxon für den Einzelnen?
Wenn das Lebensglück ohnehin weitgehend stagniert, wozu dann hart arbeiten? Auch diese Schlussfolgerung zogen einige aus dem Easterlin-Paradoxon. Diese Idee scheint naheliegend, wenn doch Einkommen und Glück langfristig nicht stark zusammenhängen. Aber Achtung: Easterlins Thesen lassen sich lediglich auf der gesellschaftlichen Ebene anwenden. Für das Individuum besteht weiterhin eine Korrelation zwischen Einkommen und Lebenszufriedenheit.
(3) Ist unsere Gesellschaft am Glückslimit?
Man könnte meinen: Wenn weder mehr Einkommen noch mehr Konsum uns glücklicher machen, sind wir einfach am Glückslimit: Mehr geht für die Gesellschaft nicht mehr. Easterlin wehrt sich gegen diese Interpretation: Wir müssen weg von der Idee, dass nur Geld Glück bringt. Wichtiger sind eine hohe Beschäftigungsquote und soziale Sicherheit. Wirtschaftswachstum schaffe laut ihm zusätzliche Beschäftigung und wirkt sich deshalb positiv auf das Wohlbefinden einer Gesellschaft aus.
Kritik am Easterlin-Paradoxon
Wo Berühmtheit ist, da ist immer auch Kritik. Seit 50 Jahren wird regelmäßig versucht, das Paradoxon zu widerlegen. Besonders Justin Wolfers und Betsey Stevenson haben mehrfach einen zwar schwachen, aber doch positiven Zusammenhang zwischen Glück und Einkommen über lange Zeiträume nachgewiesen – und das sogar in mehreren Ländern. Nur nicht für die USA, und nicht nur dort bestätigen die Daten weiterhin klar die Richtigkeit von Easterlins Befunden. Easterlin selbst ist trotz seines beachtlichen Alters weiterhin aktiv. Sein Paradoxon ist immer noch ein Stachel im Fleisch der Anhänger von mehr Wachstum: Wenn Wirtschaftswachstum das Glücksniveau der Gesellschaft kaum noch hebt, warum ist es dann so erstrebenswert? Wachstum nur um des Wachstums Willen? Sicher ist: Ein fundamentaler Wandel in der Betrachtung dieser Thematik hat auch nach dem Ende des »Golden Age of Capitalism« nicht stattgefunden.